Die Vigenère-Chiffre (auch: Vigenère-Verschlüsselung) ist eine aus dem 16. Jahrhundert stammende Handschlüsselmethode zur Verschlüsselung von geheim zu haltenden Textnachrichten.
Es handelt sich um ein monographisches polyalphabetisches Substitutionsverfahren. Der Klartext wird in Monogramme (Einzelzeichen) zerlegt und diese durch Geheimtextzeichen substituiert (ersetzt), die mithilfe eines Kennworts aus mehreren (poly) unterschiedlichen Alphabeten des „Vigenère-Quadrats“ ausgewählt werden. Dabei handelt es sich um eine quadratische Anordnung von untereinander stehenden verschobenen Alphabeten (siehe Bild).
Die Vigenère-Chiffre steht im Gegensatz zu den einfacheren monoalphabetischen Substitutionsmethoden, bei denen nur ein einziges (mono) Alphabet verwendet wird. Aufgrund ihrer für die damalige Zeit als besonders hoch eingeschätzten kryptographischen Sicherheit wurde sie auch als le chiffre indéchiffrable (frz. für „die unentzifferbare Chiffre“) bezeichnet, eine aus damaliger Sicht vielleicht zutreffende, aber aus heutiger Sicht falsche Beurteilung.
Ausgehend vom Standardalphabet mit seinen 26 Großbuchstaben werden alle möglichen Caesar-verschobenen Alphabete daruntergeschrieben. Man erhält eine quadratische Anordnung von 26 × 26 Buchstaben, ursprünglich als Tabula recta, später auch als carré de Vigenère (frz. für „Vigenère-Quadrat“) bezeichnet. In der folgenden Darstellung sind der Deutlichkeit halber oberhalb des eigentlichen Quadrats eine Zeile mit den Klartextbuchstaben und links eine Spalte mit den Schlüsselbuchstaben ergänzt worden, die prinzipiell nicht benötigt werden.
Zur Verschlüsselung eines Klartextes wie beispielsweise des Satzes „Werde Mitglied bei Wikipedia“ benötigt der Verschlüssler zunächst einen Schlüssel. Idealerweise sollte dieser möglichst lang sein und aus einer möglichst „zufälligen“ Buchstabenfolge bestehen. Erreicht die Länge des Schlüssels die des Klartextes und wird der Schlüssel nicht mehrfach verwendet, dann erhält man ein tatsächlich „unknackbares“ Verfahren, wie es aber erst Jahrhunderte später, im Jahr 1882, vom amerikanischen Kryptologen Frank Miller (1842–1925) vorgeschlagen wurde, und das heute als One-Time-Pad (Abkürzung: OTP, deutsch: „Einmalschlüssel-Verfahren“) bezeichnet wird. Zur Zeit von Vigenère und noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden allerdings regelmäßig relativ kurze und häufig auch leicht zu erratende Schlüssel benutzt, die zudem mehrfach verwendet wurden. Ein Beispiel wäre die Verwendung von WILLKOMMEN als Schlüsselwort.
Als praktisches Hilfsmittel kann der Verschlüssler den zu verschlüsselnden Text in eine Zeile schreiben und darüber das Kennwort so oft wiederholen, wie es nötig ist:
WILLKOMMEN WILLKOMMEN WILLK WerdeMitgl iedbeiWiki pedia
Die entsprechenden Geheimtextbuchstaben kann er nun leicht mithilfe des Vigenère-Quadrats ermitteln. Dazu sucht er den Kreuzungspunkt der durch den jeweiligen Schlüsselbuchstaben gekennzeichneten Zeile und der Spalte des Quadrats, die oben durch den Klartextbuchstaben gekennzeichnet ist. Beispielsweise zur Vigenère-Verschlüsselung des ersten Buchstabens W des Textes sucht er den Kreuzungspunkt der Zeile W mit der Spalte W und findet als Geheimtextbuchstaben das S. Der auf diese Weise vollständig verschlüsselte Geheimtext lautet:
SMCOOAUFKY EMOMOWIUOV LMOTK
Üblicherweise wird er in Gruppen fester Länge, beispielsweise in Fünfergruppen übertragen. Diese Maßnahme dient auch dazu, die Länge des Kennworts (hier zehn) nicht zu verraten. Der zu übermittelnde Geheimtext lautet hier:
SMCOO AUFKY EMOMO WIUOV LMOTK
Der befugte Empfänger ist, wie der Absender, im Besitz des geheimen Kennworts (hier: WILLKOMMEN) und kann durch Umkehrung der oben beschriebenen Verschlüsselungsschritte aus dem Geheimtext durch Entschlüsselung mithilfe des Kennworts den ursprünglichen Klartext wieder zurückgewinnen:
SMCOOAUFKYEMOMOWIUOVLMOTK WILLKOMMENWILLKOMMENWILLK WERDEMITGLIEDBEIWIKIPEDIA
Vorteile einer polyalphabetischen Methode wie der Vigenère-Chiffre gegenüber den in den damaligen Jahrhunderten üblichen einfachen monoalphabetischen Methoden – dazu gehören auch die damals sehr beliebten Nomenklatoren – ist das durch die Verwendung von vielen unterschiedlichen Alphabeten bewirkte Abschleifen des bei den monoalphabetischen Verfahren so verräterischen Häufigkeitsgebirges. Der systematische Wechsel der Alphabete stärkt das Verfahren gegenüber statistischen Angriffsmethoden. Auch der erst im 20. Jahrhundert entwickelte Koinzidenzindex, ein universell einsetzbares kryptanalytisches Hilfsmittel, wird bei polyalphabetischen Verfahren wesentlich abgeschwächt. Lange wurde – abgesehen von Ausnahmen, in denen der Codeknacker das Schlüsselwort oder Teile des Klartextes erraten konnte – keine systematische Angriffsmethode gegen die Vigenère-Verschlüsselung gefunden, die sich über die Jahrhunderte den Ruf einer „unknackbaren Chiffre“ erwarb. Dennoch wurde sie nur selten verwendet und stattdessen lieber auf die althergebrachten Verfahren, wie Nomenklatoren, zurückgegriffen, wohl auch, weil viele Anwender die Chiffre als zu kompliziert in der Anwendung empfanden.
Im Jahr 1854 fand der englische Wissenschaftler Charles Babbage (1791–1871) eine Lösung der Chiffre, die er jedoch nie publizierte. Der Erste, der eine allgemeingültige Angriffsmethode auf die Vigenère-Chiffre beschrieb, war der preußische Infanteriemajor und Kryptologe Friedrich Wilhelm Kasiski (1805–1881). Er veröffentlichte 1863 in Berlin sein Buch „Die Geheimschriften und die Dechiffrir-Kunst“ und erläuterte darin seine Idee zur Entzifferung von Vigenère-verschlüsselten Texten. Seine Entzifferungsmethode ist noch heute unter seinem Namen als Kasiski-Test bekannt. Als Erstes ist die Länge des verwendeten Schlüsselworts zu ermitteln. Dazu durchsuchte Kasiski den Geheimtext nach Buchstabenfolgen der Länge zwei (Bigramme) oder länger (Trigramme, Tetragramme etc.), die mehrmals vorkommen, genannt: „Doppler“. Anschließend bestimmte er den Abstand zwischen den Dopplern. Er erzeugte so eine möglichst vollständige Liste mit im Geheimtext auftretenden Dopplern und deren Abständen. In dieser suchte er mithilfe der Faktorisierung (Primfaktorzerlegung) nach gemeinsamen Längen, um so auf die vermutliche Schlüsselwortlänge zu schließen. Im Cryptologia-Artikel Breaking Short Vigenère Ciphers (siehe Literatur) ist die wichtige Seite 41 aus Kasiskis Buch abgebildet.[9] Nach der Untersuchung seines Vigenère-verschlüsselten Beispieltextes mit 180 Buchstaben zieht er das Fazit: „Hier kommt der Faktor 5 am häufigsten vor, der Schlüssel muß demnach 5 Buchstaben enthalten.“
Hat man die Schlüssellänge gefunden, so kann man im zweiten Schritt der Entzifferung den Geheimtext in seine Bestandteile zerlegen, die mit jeweils demselben Alphabet verschlüsselt wurden. In Kasiskis Beispielfall würde man den ersten, sechsten, elften Buchstaben und so fort als erste Gruppe betrachten. Die zweite Gruppe besteht aus dem zweiten, siebten, zwölften Buchstaben und so fort. Die dritte aus dem dritten, achten, dreizehnten und so weiter. Innerhalb jeder Gruppe liegt eine einfache Caesar-Verschlüsselung vor, die mithilfe der Häufigkeitsanalyse leicht zu knacken ist. In vielen Fällen entspricht schlicht der am häufigsten auftretende Geheimtextbuchstabe jeder Gruppe dem Klartext-„e“, also dem in den meisten europäischen Sprachen häufigsten Buchstaben. Hat man das „e“ identifiziert, dann ergeben sich unmittelbar alle anderen Buchstaben, denn die Vigenère-Chiffre benutzt ja nur verschobene Alphabete und keine verwürfelten, wie es der Namensgeber eigentlich vorgeschlagen hatte.
Nach „Rohrbachs Forderung“ sollte der Codeknacker zum Schluss seiner Arbeit noch versuchen, das Schlüsselwort zu erschließen. Erst dann gilt seine Arbeit als erfolgreich beendet. Im Idealfall gelingt ihm dies einfach mit Kenntnis des Klartextes durch anschließendes direktes Ablesen im Quadrat. In der Praxis wurden jedoch nicht immer plump einfache Wörter als Schlüssel benutzt. Dann gilt es, auch noch den Algorithmus zu erschließen, nach dem der Verschlüssler das Schlüsselwort (beispielsweise aus einem Merksatz) bildet und möglichst auch, wie und in welchem Rhythmus er es wechselt.